22 Oktober 2010

Verflixt und verhartzt: ALG II-Sätze befeuern die Gemüter

von Ursula Pidun

Monate hat es gedauert, dann war es soweit: Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) verkündete gestern das Ergebnis der Neuberechnungen der Regelsätze für die derzeit etwa acht Millionen Bezieher von Hartz IV-Leistungen. Angesichts des sehr mageren Ergebnisses ist die Enttäuschung auf Seiten Betroffener, Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und Kirchen sehr groß. Dennoch folgt der als Almosen wirkende Betrag von bescheidenen fünf Euro wohl den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts – immer vorausgesetzt, diesmal wurde richtig gerechnet.
Wenn eine Bundesregierung ausschließlich den aufoktroyierten Vorgaben der höchstrichterlichen Instanz folgt - nicht mehr, aber naturgemäß keinesfalls weniger - dann zählen Diskussionen und Aufreger, die die Gemüter derart erhitzen, lediglich zur Abteilung verschwendete Energien. Das Bundesverfassungsgericht hat die Willkür in der Berechnung gestoppt und Transparenz innerhalb der Berechnung angemahnt. Es hat nicht zwangsläufig gefordert, die Sätze zu erhöhen. Zu kritisieren ist allerdings, dass eine korrekte Berechnung nicht direkt stattgefunden hat. Immerhin kosten die Nachberechnungen den Steuerzahler viel Geld für das Personal in den Ministerien. Solche Nebenwirkungen und fachlichen Fehlleistungen werden gerne verschluckt. Auch die Neuzustellung von Bescheiden schlägt mit einer Millionensumme zu Buche. Betroffene hingegen mussten - aufsummiert betrachtet - auf ein hübsches Sümmchen verzichten, das sie dringend gebraucht hätten. War das wirklich notwendig?


Die politisch gewollte Unterschicht
Die Frage wird niemand der Verantwortlichen korrekt beantworten sondern meisterliche Ausreden präsentieren und diesen Part geschickt umgehen. Für die Bürger geht es ohnehin um etwas ganz anderes, denn mit der Schaffung eines gigantischen Niedriglohnsektors und dem hierzu vorsorglich begleitend eingerichteten Programm ALG II (Hartz IV) wurde eine Unterschicht politisch regelrecht erst geschaffen. Das ist das Problem und nicht etwa 16 Cent pro Tag mehr, die ab Januar 2011 in die Portemonnaies der Betroffenen plumpsen. Kein Arbeitsminister und keine Arbeitsministerin hat den Mut, die Kraft und die Courage, dem gewaltigen und gesellschaftsrelevanten Problem Hartz IV energisch die Stirn zu bieten und diesem Konstrukt kraftvoll zu Leibe zu rücken. Auch nicht eine Ursula von der Leyen, die ohne Unterlass ein Bild von Betroffenen schafft, die weitgehend ungebildet sind, gesellschaftlich keine Beiträge leisten und sinnlos vor sich hindümplen. Immer und immer wieder wird zudem bekräftigt, die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld sei richtig gewesen. Warum sollte das richtig gewesen sein? Es gab in Bereich arbeitsmarktresistenter Sozialhilfeempfänger damals 200.000 Betroffene und es gibt sie noch heute. Hier wären sozialpädagogische Überlegungen möglicherweise legitim. Der gesamte Rest von ca. acht Millionen Menschen wird in einen gleichen Topf geworden und in weiten Teilen verallgemeinernd als "sozial schwach" beurteilt. Dies, obwohl der größte Teil nicht "sozial schwach" sondern einkommensschwach ist und händeringend nach einer Stelle, vor allem aber auch nach einem besseren Einkommen sucht.


Seriöse Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt
Eine Vermittlung in seriöse, geprüfte Stellen jenseits von Dumpinglöhnen findet seitens der Arbeitsagentur gar nicht statt. Sie befasst sich weitgehend mit Fremdbestimmungsmaßnahmen, die bis in die Tiefe der Privatsphäre dieser Menschen reicht und unterstellt verallgemeinernd, Eltern würden ihren Kindern nicht einmal ein Mittagessen zugute kommen lassen. Neben dieser unerträglichen Brandmarkung bestimmter Menschen wurde gezielt eine gigantische Geschäftemacherei mit der Armut auf den Weg gebracht - so abstrus das auch klingen mag. Statt professionelle Stellen zu akquirieren - was zweifelsfrei mit Mühen verbunden wäre - wurden und werden noch immer sinnlose Fortbildungsinstitute finanziell großzügig gefördert. Wie Pilze schießen sie auch weiterhin aus dem Boden und für Betroffene wird ein Kopfgeld von bis zu 800 Euro monatlich bezahlt, wenn sie in diese größtenteils völlig sinnlosen Maßnahmen genötigt werden - ob sie nun wollen oder nicht. Die so verhartzte Gesellschaft fliegt dann zwar beschönigend aus den Statistiken, hat nach dem Vollzug allerdings keinesfalls bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt und schon gar nicht auf eine wesentlich bessere Bezahlung. Angesichts eines drohenden Fachkräftemangels, der schon lange bekannt ist, erhält dieses Szenario im arbeitsmarktpolitischen Bereich ein besonders konfuses Gesicht. Niemand, der sich mit diesem Bereich befasst, wird ernsthaft behaupten wollen, er habe die demografische Entwicklung übersehen. Dementsprechend hätten hochqualifizierte Fortbildungen auf dem Plan stehen müssen und nicht etwa 1-Euro-Jobs, Bewerbungstraining und hirngespinstige Phantasie-Kaufläden.
Die Arbeitsagentur – einstmals auch Arbeitsamt genannt – hat eine äußerst schwierige Vergangenheit. Sie sollte peinlichst darauf achten, die Nase nur so tief in die privaten Angelegenheiten der Bürger zu stecken, wie es unbedingt nötig ist für Vermittlungen auf einem seriösen Arbeitsmarkt. Die Theorie, der Staat könne den Wert eines Menschen anhand der wirtschaftlichen Ausbeute bemessen und Individuen nach eigenen Vorstellungen "erziehen", ist ebenso falsch wie gefährlich und zeugt von einer antidemokratischen Haltung. Gleiches gilt für die derzeitige Praxis, Arbeit und Soziales zu stark miteinander zu vermengen. Der Staat muss sich wieder seiner eigentlichen Aufgaben besinnen und maßvolle, aber passable Rahmenbedingungen nicht nur für Unternehmer, sondern auch für Arbeitnehmer schaffen. Rahmenbedingungen, innerhalb derer die Menschen atmen können und sie dazu befähigt, selbstbestimmt den Anforderungen nachzukommen.

Quelle und Weiterlesen: SPREERAUSCHEN.NET

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