21 Mai 2015

Vernunft muss einkehren

Vernunft muss einkehren: So verkündet es ein Bahnsprecher zurzeit. Er meint damit die streikenden Mitglieder der GDL, die Millionen Menschen am Reisen über Pfingsten hindern würden. Sie sollen aufhören, an den Verhandlungstisch zurückkehren und einen Schlichter akzeptieren. Das aber würde auch bedeuten, die GDL akzeptiert, dass das Bahnmanagement die geltende Rechtslage weiterhin missachtet. Kann das vernünftig sein?
In der Süddeutschen Zeitung schreiben Detlef Esslinger und Heribert Prantl heute folgendes:
Das Argument Weselskys, "Wir lassen nicht über Grundrechte schlichten", klingt gut, ist womöglich aber hohl; jede Schlichtung entscheidet auch über die Auslegung des Grundrechts. Der Arbeitsrechtler Michael Kittner, ehemals Justitiar der IG Metall, kritisiert daher ein "autistisches Grundrechtsverständnis" der GDL. Sie missachte die Forderung des großen Senats des Bundesarbeitsgerichts von 1971, dass vor jedem Streik ein Schlichtungsverfahren stattfinden müsse. Fazit: Es könnte vor Gericht eng werden für die GDL.
Diese Bemerkung ist irreführend, weil sie über entscheidende Urteile des Bundesarbeitsgerichts (BAG) von 2010 hinweg geht, auf die sich die GDL immer wieder und zurecht beruft. Das BAG schaffte in mehreren Entscheidungen die jahrzehntelang geltende Regel der Tarifeinheit ab. Seitdem gilt arbeitsrechtlich das Prinzip "Ein Betrieb – eine Gewerkschaft" nicht mehr. Der Bahnvorstand missachtet diesen Richterspruch aber konsequent und weigert sich, mit der GDL über Tarifverträge für alle ihre Mitglieder zu verhandeln.
Es geht also nicht um die Frage von Macht oder ein wenig mehr Kompromissfähigkeit, sondern schlichtweg darum, ob ein Arbeitgeber damit durchkommt, geltendes Recht solange zu umgehen, bis der Gesetzgeber, der auch noch Eigentümer des betroffenen Unternehmens ist, die Rechtslage nachträglich und zugunsten der Arbeitgeberseite angepasst hat. Die Frage lautet also, ob wir den Rechtsstaat achten oder es vorziehen in einer Bananenrepublik zu leben, in der die tatsächlich Mächtigen unter dem Applaus der Medien offenbar Gesetze bestellen und bis zur Lieferung geltendes Recht biegen und brechen können.

09 Mai 2015

Die Zeit der Spielchen ist vorbei - Putins Botschaft an die westliche Elite

Die meisten Menschen in der westlichen Welt haben vermutlich von der Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf der Waldai-Konferenz in Sotschi vor wenigen Tagen nichts mitbekommen, und leider dürfte es sich auch als zutreffend erweisen, dass diejenigen, die von der Rede gehört haben, keine Gelegenheit hatten, sie zu lesen, sodass ihnen ihre Bedeutung entgangen ist.

Die westlichen Medien gaben ihr Bestes, diese Rede entweder ganz zu ignorieren oder ihre Bedeutung zu verdrehen. Unabhängig davon, was Sie über Putin denken (oder nicht denken) – ähnlich wie die Sonne und der Mond existiert Putin nicht, damit Sie sich eine Meinung über ihn bilden können – handelt es sich hier wahrscheinlich um die wichtigste politische Rede seit Churchills Eiserner Vorhang-Rede vom 5. März 1946. In dieser Rede veränderte Putin unerwartet die Spielregeln der Politik. Bisher gestaltete sich die internationale Politik etwa folgendermaßen: Politiker gaben öffentliche Erklärungen ab, um auf diese Weise die angenehme Fiktion nationaler Souveränität aufrechtzuerhalten.
Aber diese Stellungnahmen dienten nur der Show und hatten nichts mit der Wirklichkeit internationaler Politik zu tun. Später traf man sich dann zu geheimen Verhandlungen hinter verschlossenen Türen, in denen die tatsächlichen Absprachen ausgehandelt wurden.
Putin hatte zunächst versucht, dieses Spiel mitzuspielen, und lediglich erwartet, dass Russland wie ein gleichwertiger Partner behandelt würde. Aber diese Hoffnung hat sich zerschlagen, und auf dieser Konferenz erklärte Putin nun, diese Spielchen seien vorbei, und verstieß damit gegen ein westliches Tabu, weil er sich über die Köpfe der Elitegruppen und der politischen Führer hinweg direkt an die Menschen wandte.

Der russische Blogger Chipstone fasst die wesentlichen Punkte der Rede Putins folgendermaßen zusammen:
  1. Russland wird sich nicht länger an irgendwelchen Spielchen und an Hinterzimmer-Verhandlungen beteiligen. Aber Russland ist zu ernsthaften Gesprächen und Vereinbarungen bereit und auf sie vorbereitet, sollten diese der kollektiven Sicherheit förderlich sein, sich auf Gerechtigkeit gründen und die Interessen aller Seiten berücksichtigen.
  2. Alle Systeme globaler kollektiver Sicherheit sind »ernsthaft geschwächt, gebrochen und deformiert« worden. Gegenwärtig existieren keine internationalen Sicherheitsgarantien mehr. Und für ihre Zerstörung gibt es einen Verantwortlichen: Die Vereinigten Staaten von Amerika.
  3. Die Architekten der Neuen Weltordnung sind mit ihren Plänen gescheitert, sie haben auf Sand gebaut. Es liegt nicht alleine bei Russland, ob eine neue, wie auch immer geartete Weltordnung errichtet werden soll, aber an Russland führt bei dieser Entscheidung kein Weg vorbei.
  4. Russland setzt bei der Einführung von Neuerungen in die gesellschaftliche Ordnung auf eine konservative Herangehensweise, aber es lehnt eine Erforschung und Diskussion über derartige Innovationen keineswegs kategorisch ab, um so feststellen zu können, ob deren Einführung gerechtfertigt wäre.