04 Oktober 2010

Die soziale Mauer

von Jürgen Fenn

Zwanzig Jahre nach dem 3. Oktober 1990 ist auch der deutsche Sozialstaat nicht mehr wiederzuerkennen. Gewiß, sogenannte Reformen gab es schon vorher, und immer mehr liefen sie schon damals aufs Sparen hinaus, auf die Rücknahme von Sozialleistungen oder auf deren gänzlichen Abbau. Mit dem Zusammenschluß der beiden deutschen Staaten begann trotz allem aber eine neue Phase von Sozialreformen, denen ein völliger Paradigmenwechsel zugrundeliegt und die zu einer Umgestaltung des Sozialstaats geführt haben, die in ihrem Vorfeld nicht ohne weiteres absehbar gewesen ist. Einige Punkte mögen das im folgenden veranschaulichen.


1. Nicht nur die politischen Parteien und die westdeutschen Konzerne steckten ab 1989/1990 ihre Claims in Ostdeutschland ab, auch die westdeutschen Sozialversicherungsträger „erstreckten ihre Zuständigkeit“ auf das „Beitrittsgebiet“, wie es im Einigungsvertrag hieß. Seitdem bedienten sie nicht nur die Ansprüche ihrer bisherigen Mitglieder, sondern darüber hinaus auch die laufenden Sozialleistungsansprüche der ehemaligen DDR-Bürger. Überwiegend waren es Bestandslasten, die aus Versicherungsfällen zu DDR-Zeiten herrührten, und der genaue Umfang dieser Lasten ist bis heute unbekannt, weil er in keiner Statistik je ausgewiesen worden wäre. Diese (aus westlicher Sicht nicht zufällig etwas lästig klingend so genannten) „Altlasten Ost“ oder „DDR-Altlasten“ mußten mit Transfers aus dem Westen erbracht werden. Bundeskanzler Helmut Kohl setzte sich damals gegen den Sozialminister Norbert Blüm durch und sorgte persönlich dafür, daß diese Lasten aus Sozialversicherungsbeiträgen aufzubringen waren. Man war sich damals auch unter Juristen darüber einig, daß es keinen Rechtsgrund gebe, aus dem heraus die Sozialversicherungsträger für diese Lasten einen Ausgleich aus Steuermitteln hätten verlangen können. Erst heute ist man sich weitgehend darüber einig, daß der Verzicht auf einen solchen Ausgleich und die faktische Finanzierung eines beträchtlichen Teils der deutschen Vereinigung über Sozialversicherungsbeiträge zu erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen geführt hat, die bis in die Gegenwart fortwirken. Franz-Xaver Kaufmann hatte schon 1997 darauf hingewiesen, daß ein Gutteil der darauffolgenden sozialpolitischen Diskussion in Deutschland sich letztlich um die Verteilung der vereinigungsbedingten Lasten gedreht habe.

2. Die Arbeitsförderung wurde mit Beginn des Jahres 1998 neu geregelt. An die Stelle des Arbeitsförderungsgesetzes von 1969 trat das Sozialgesetzbuch III, und anders als in anderen Zweigen des Sozialrechts, in denen der Gesetzgeber das Prinzip der „begrenzten Sachreform“ bei der Eingliederung des Sozialrechts in das Sozialgesetzbuch walten ließ, kam es hier zu tiefgreifenden Reformen, die nicht nur dazu führten, daß die Arbeitslosen bis heute von der „Arbeitsagentur“, die bis dahin Arbeitsamt hieß, als „Kunden“ bezeichnet werden. Denn auch die ganze Zielsetzung der Arbeitsförderung selbst wurde geändert. Während § 1 AFG noch bestimmte, ein „hoher Beschäftigungsstand“ solle „erzielt und aufrechterhalten, die Beschäftigungsstruktur“ solle „ständig verbessert und damit das Wachstum der Wirtschaft gefördert werden“, bestimmte von nun an § 1 SGB III: „Die Arbeitsförderung soll dem Entstehen von Arbeitslosigkeit entgegenwirken, die Dauer der Arbeitslosigkeit verkürzen und den Ausgleich von Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt unterstützen.“ Der „hohe Beschäftigungsstand“ taucht hier erst im darauffolgenden vierten Satz der Norm auf. Das waren keine rein kosmetischen Veränderungen, sondern es ging hierbei um einen ersten Paradigmenwechsel, der das Sozialrecht und die Erfahrungen, die die Bürger mit der Arbeitsverwaltung machen, nachhaltig verändert haben. Wenn ihnen § 2 Nr. 1 AFG noch versicherte, das Arbeitsamt werde „insbesondere dazu beitragen, daß weder Arbeitslosigkeit und unterwertige Beschäftigung noch ein Mangel an Arbeitskräften eintreten oder fortdauern“, spricht das SGB III durchgängig in ökonomischen Marktmetaphern und erklärt den Arbeitsuchenden damit zum homo oeconomicus, der zu verwerten sei, ganz gleich, wie.

3. Von hier aus dauerte es dann noch einmal sieben Jahre bis zur Abschaffung der zeitlich unbegrenzten Arbeitslosenhilfe und zur Einführung des Workfare-Programms „Hartz IV“ im Jahre 2005. Die Sozialversicherung wurde endgültig durch die Fürsorge ersetzt, die Betroffenen wurden nach dem Auslaufen des Arbeitslosengelds auf Sozialhilfeniveau gesetzt, sowohl was die Geldleistungen angeht als auch, was die Anspruchsvoraussetzungen betrifft. Seitdem betreibt der Gesetzgeber ein Geschäft, zu dem er als Sozialstaat verfassungsrechtlich gar nicht ermächtigt ist: Er schafft Armut beziehungsweise er bereitet sie in ganz großem Stil vor. Statt Mindestlöhne einzuführen, werden die Betroffenen in prekäre Beschäftigungsverhältnisse gezwungen („Dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen ist jede Arbeit zumutbar…“), bei denen sie so wenig verdienen, daß ihr Arbeitsentgelt durch ergänzende Leistungen auf das Sozialhilfeniveau „aufgestockt“ werden muß. Und ihre Beiträge zur Rentenversicherung sind so niedrig, daß die davon Betroffenen ihr Leben lang nicht mehr aus ihrer „Hilfebedürftigkeit“ herausfinden werden. In Westdeutschland betrifft es den einen oder die andere, vor allem Alleinerziehende, im Osten aber sind es ganze Landstriche, die von diesem Regime betroffen sind, das auch schon mal als „ schlanker Sozialstaat“ apostrophiert wird. Nur an einer Stelle gibt sich dieser Staat noch wohlgenährt, in seiner Sozialgerichtsbarkeit nämlich. Denn statistisch gesehen ist jeder zweite Hartz-IV-Bescheid fehlerhaft und muß von den Sozialgerichten aufgehoben werden. So eine Erfolgsquote hat es in der Geschichte der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit noch nicht gegeben. Der Staat handelt damit nachweislich in einem solchen Umfang rechtswidrig, wie noch niemals zuvor, und die diesbezüglichen Behörden sind so unzureichend ausgestattet, daß die eigentliche Sachbearbeitung faktisch an die Sozialgerichte outgesourct worden ist.

Quelle und Weiterlesen: DAS BLÄTTCHEN

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