21 September 2011

Zwischen den Welten: Die Unzufriedenheit wächst

Es scheint, als ginge alles weiter wie bisher - zwar hat Europa selten eine solche Häufung an Massendemonstrationen und Unruhen gesehen, aber noch glänzt der Plastik-Überzug unserer Gesellschaft, allen Schrammen zum Trotz. Doch unter der Oberfläche wächst der Bruch mit den alten Strukturen, auch wenn viele diesen vielleicht derzeit nur als eine tiefe Unruhe und Unzufriedenheit spüren.

Der Aufstand des Gewissens
In einem Fernsehinterview mit der ARD widersprach kürzlich der bekannte Globalisierungskritiker Jean Ziegler der Feststellung des Moderators, das System werde bisher trotz aller Ungerechtigkeiten kaum in Frage gestellt: "Es ist eine ganz tiefe Unruhe, ein ganz tiefer Bruch da zwischen den Menschen des Westens und dieser kannibalischen Weltordnung, die beherrscht wird vom Banken-Banditismus. Und eines Tages wird es den Aufstand des Gewissens geben."
Ziegler meint: Die Menschen haben sich innerlich schon aus dem System verabschiedet. Und auch wenn sie in Europa nicht auf die Straße gehen, wenn es noch keine sichtbare Revolution gibt, so ist dies nur noch eine Frage der Zeit.

Unzufriedenheit
Tatsächlich scheint das nicht nur Zieglers Sicht der Dinge zu sein. Eine Umfrage in 2010 ergab, dass 70 Prozent der Deutschen jedes Vertrauen in die Politik verloren haben - das dürfte sich durch die sich verschlimmernde Finanzkrise, Stuttgart 21 und dem Atomausstieg nicht besonders verbessert haben. Ähnlich kritisch wird das Wirtschaftssystem eingeschätzt, dass seine Fehler nun immer deutlicher offenbart.
Aber was da schwelt, ist nicht nur die Frustration über die politischen und globalen Probleme einer Welt, in der in jeden Tag 37.000 Menschen verhungern, während anderswo die Lebensmittel zugunsten der Preisstabilität vernichtet werden. Auch nicht die Wut über milliardenschwere Bankenrettungspakte, bei gleichzeitiger Kürzung von Sozialleitungen und einem immer höheren Rentenalter. Es ist auch der normale Alltag, den viele liebend gerne wütend an die Wand schmeißen würden.
Wie viele Menschen haben es wohl satt, nur noch für Miete und Essen zu arbeiten, in trostlosen Jobs, ihre Kinder kaum zu sehen und keine Zeit zu haben für das, was ihnen wirklich wichtig ist? Das hat vielleicht mit einer Nachkriegs-Generation funktioniert, aber es funktioniert jetzt nicht mehr. Die Mehrheit der Deutschen hat innerlich gekündigt, meint denn auch eine aktuelle Studie ermittelt zu haben - 75 Prozent der Deutschen würden gerne ihren Job schmeißen und etwas anderes tun.
Und dann ist da noch die Unzufriedenheit mit Institutionen wie dem bestehenden Schulsystem, dem Sozialsystem, dem Gesundheitssystem - tatsächlich mit so ziemlich Allem. Erstmals seit dem zweiten Weltkrieg wird die gesamte Systemstruktur von Millionen von Menschen in Frage gestellt. Die Gesellschaft steht vor einer Zerrreisprobe. Und das Individuum damit auch.


Mangel an Alternativen
Die Herausforderung der Situation ist sicherlich der scheinbare (oder tatsächliche) Mangel an Alternativen, die fehlende Perspektive. Der Otto-Normal-Bürger mag "die da Oben" und das System innerlich abgeschrieben haben, von seinem Job angekotzt sein und die Bankenrettung für Volksbetrug halten - es bieten sich aber unmittelbar keine alternativen Handlungsmöglichkeiten. Jeder Schritt aus dem "System" heraus gefährdet oftmals die eigene (finanzielle) Existenz.
Vor allem in der jungen Generation baut sich langsam ein enormes Frustpotenzial auf, dass sich - wie wir gerade gesehen haben - nicht selten auf völlig absurde und destruktive Weise entlädt.
Und selbst jene Menschen, die sich im ganz positiven Sinne nach einer neuen Welt sehnen, befinden sich derzeit quasi zwischen zwei Welten: Das Alte funktioniert für sie nicht mehr, aber das Neue ist noch nicht immer greifbar. Oft ist völlig unklar, wie es weitergehen kann und soll. Was tun, wenn normale 8-16-Uhr-Jobs seelisch nicht mehr auszuhalten sind? Wenn man seine Kinder nicht mehr in eine normale Schule geben mag, weil sie dort "auffällig" stigmatisiert werden, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo ist der Weg zu einer anderen Art des (Zusammen-)Lebens? Wie sich mit einem System arrangieren, das man als grundfalsch erkannt hat?

Aushalten, Loslassen
 Dieses Spannungsfeld ist nicht immer einfach auszuhalten. Der Frust wächst. Und es ist gleichzeitig nicht zu unterschätzen, welchen Mut es trotzdem erfordert, das Alte einfach hinter sich zu lassen, ins Unbekannte zu springen. Auf viele Fragen gibt es derzeit keine einfachen Antworten, auch in ganz praktischer Hinsicht. Ist es zum Beispiel ok, sich in einer "Orientierungsphase" per Hartz 4 genau von jenem System finanzieren zu lassen, aus dem man am liebsten aussteigen würde? Oder vollzieht man gar einen ganz radikalen Ausstieg? Reicht es mir, den Stromanbieter zu wechseln und im Biomarkt einzukaufen? Arrangiert man sich, versucht das Beste innerhalb der bestehenden Möglichkeiten? Jeder muss nun viele Fragen für sich selbst beantworten.
Es ist an diesem Punkt der Geschichte, wo es sich einmal mehr lohnt, vor allem innere Gefühle zu untersuchen: Was macht das mit mir? Was für Ängste kommen da hoch? Was ist hier meine Wahrheit? Wonach sehne ich mich wirklich? Wir alle sind über Jahre in ein unmenschliches System assimiliert worden - das hinterlässt Spuren im Denken und Fühlen. Muster, die es aufzulösen gilt, wenn es einen Schritt in etwas wirklich Neues geben soll. Die Phase zwischen den Welten, die Ereignisse, die sich nun in der Welt abspielen werden, geben uns Gelegenheit, diese Muster und Gefühle loszulassen.
Wie viel von uns selbst nehmen wir nur in Bezug auf unsere Prägung war? Wer wären wir und was würden wir tun, wenn es keine äußeren Zwänge gäbe? Was ist mein Herzens-Traum? Welche Fähigkeiten habe ich? Wie kann ich diese zum Wohle des Ganzen und einer neuen Zeit einbringen?
Es ist fast, als müsste man sich sein Selbst zurückerobern. Langsam wieder spüren und träumen lernen. Und es ist in diesem Prozess, wo sich vielleicht unser Platz im Ganzen zeigt. All dies ist ein Spiel der Selbsterkenntnis, und wie so oft ist der Weg dabei Teil des Ziels. In den wenigsten Fällen wird also ein Nachmittag angestrengten Nachdenkens die erhofften Perspektiven öffnen. Vielmehr ist es ein stetes Freilegen, heraus aus den Schleiern der gesellschaftlichen Betäubung. Und die äußeren Hindernisse sind dabei Einladungen, immer tiefer nach innen zu schauen, freier zu werden.
Indem nun jede/r Einzelne seinen eigenen Weg findet, seine eigenen Schlüsse zieht, seine eigenen Schritte geht, formen sich vielleicht auch bald neue Dinge, neue Gemeinschaften und neue Wege, die wir dann gemeinsam gehen können. Bis dahin müssen wir leben und arbeiten in einer Zeit zwischen zwei Welten.

"Es ist kein Zeichen geistiger Gesundheit, an eine kranke Gesellschaft gut angepaßt zu sein."
(J.Krischnamurti)

Quelle: SEIN

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