10 September 2011

Psychische Störungen: Krankheit oder bloß normale Reaktion?

Über die kürzlich erschienenen Meldungen, dass 38 Prozent der Europäer unter psychischen Krankheiten leiden, sollte keineswegs einfach hinweg gelesen werden. An oberster Stelle finden sich Angststörungen und Depressionen. Zweifellos handelt es sich bei beidem um Leiden. Doch wodurch werden sie ausgelöst? Handelt es sich um eine Fehlfunktion in unseren Gehirnen? Oder eher um eine völlig normale und gesunde Reaktion auf untragbare Bedingungen? In immer mehr Bereichen unseres Lebens wird der Mensch mit den Grenzen seiner Belastungsfähigkeit konfrontiert. Vielleicht sollten wir erst einmal an eine Veränderung der Lebensumstände denken, bevor wir Psychiater einschalten.

Die Details der kürzlich zur Veröffentlichung gelangten Studie finden sich unter anderem in der Ärztezeitung. Daten aus 27 EU-Staaten sowie der Schweiz, Island und Norwegen wurden ausgewertet. Nicht weniger als 14 Prozent der Menschen, also jeder Siebte, leiden unter Angststörungen. 7 Prozent unter Depressionen. Dazu kommen Suchterkrankungen, 3,4 Prozent, Aufmerksamkeitsstörungen (ADHS) bei Kindern und Jugendlichen sowie Demenz bei der älteren Generation.
Es gibt Krankheiten, bei denen es sich tatsächlich um Fehlfunktionen handelt. Ohne über Prozentsätze zu spekulieren, in vielen Fällen sind die Auslöser aber durchaus bekannt. Erleidet ein Kettenraucher einen Herzinfarkt, so ist es wohl naheliegend, den Nikotinkonsum als Ursache zu erachten und nicht ein krankes Herz, auch wenn es Raucher gibt, deren Herz trotz der Nikotinaufnahme problemlos weiter schlägt. Leidet ein Leistungssportler unter Erkrankungen der Gelenke, so liegt dies vermutlich an der übermäßigen Belastung. Stellt sich bei einem Arbeiter, der täglich acht Stunden erhöhtem Lärm ausgesetzt ist, ein Gehörschaden ein, so liegt der Kern des Problems sicher nicht in den Ohren oder im Gehörzentrum, sondern im Lärm.

Und jetzt teilt man uns mit, dass ein schockierend hoher Anteil der Bevölkerung unter psychischen Erkrankungen leidet. Was sollen wir davon halten? Sollen wir jetzt tatsächlich glauben, dass diese Menschen ärztliche Hilfe benötigen? Sollen wir von den Betroffenen erwarten, dass sie Pharmadrogen einnehmen, um genauso gut zu funktionieren wie alle anderen? Oder wäre es nicht doch endlich an der Zeit, diese Meldungen als Weckruf zu verstehen? Wäre es nicht naheliegend, die Lebensbedingungen zu hinterfragen? Wenn es mittlerweile nachweislich so viele Menschen sind, die den Druck, der auf ihnen lastet, nicht ertragen, wäre es nicht höchste Zeit, die Bedingungen wieder menschlicher zu gestalten?
Bildet sich bei einem Menschen, aufgrund ungesunder Ernährung, ein Magengeschwür, würde ihm der Arzt nicht zuerst einmal raten, seine Diät umzustellen? Leiden Menschen unter beruflichem Stress, wäre es nicht empfehlenswert, den Beruf zu ändern? Stellt sich ein sogenanntes Burn-Out-Syndrom ein, wäre es nicht vor allem empfehlenswert, eine ausgedehnte Pause einzulegen?
14 Prozent unserer Mitbürger leiden unter Angststörungen? „Allen Angststörungen ist gemeinsam, dass die Betroffenen übermäßig starke Ängste haben vor Dingen, vor denen Menschen ohne Angststörung keine oder in weit geringerem Maß Angst oder Furcht empfinden können“, ist bei Wikipedia zu lesen. Könnte es vielleicht sein, dass berechtigte Angst, wenn sie immer wieder geschürt wird, übersteigerte Reaktionen auch in jenen Punkten, in denen übertriebe Sorge nicht unbedingt von Nöten wäre, mit sich bringt?
Verfällt jemand in Angstzustände, weil er in einem bayrischen Badesee einen Angriff von Piranhas befürchtet, dann wäre ihm sicher zu raten, einen Psychiater aufzusuchen. Ist Ihr Konto jedoch weit überzogen, Ihre Miete schon wieder erhöht worden und noch dazu hören Sie von Gerüchten, dass der Betrieb, in dem Sie arbeiten, vor der Pleite steht, dann sind Ihre Ängste keine Krankheit. Dann handelt es sich um eine völlig normale Reaktion auf die gegebenen Umstände. Und wenn 14 Prozent der Menschen in 30 verschiedenen europäischen Ländern von Ängsten geplagt werden, dann sind nicht diese Menschen verrückt, sondern jene, die glauben, durch Beratung oder durch Pillen diesen Zustand verändern zu können. Fühlt sich ein Mann von Depressionen gequält, weil er sich mit den Konsequenzen eines Konkurses herumschlagen muss, weil ihm seine Frau weggelaufen ist und er darüber hinaus keine Ahnung hat, wie er seine nächste Mahlzeit finanzieren soll, dann braucht er eine Finanzspritze und keinen teuren Aufenthalt in einer Heilanstalt. Auch wenn ihm die dortigen Experten zu erklären versuchen, dass seine Depressionen in einem Kindheitstraume wurzeln.
„Aber Andere werden mit ihren Problemen ja auch fertig!“, ist mit Sicherheit nicht die richtige Anschauung. Weil Helmut Schmidt im Alter von 92 Jahren offensichtlich unbeschadet eine Zigarette nach der anderen raucht, heißt das noch lange nicht, dass Rauchen nicht schädlich ist. Es gibt Kinder, denen es problemlos gelingt, trotz mangelnder Bewegung, trotz ungesunder Ernährung, trotz den noch lange nicht erforschten Einflüssen aller möglichen Chemikalien auf den Organismus, aufmerksam zu bleiben. Gelingt es einem bestimmten Prozentsatz jedoch nicht, sich in diese völlig unnatürlichen Gegebenheiten einzugewöhnen, dann brauchen sie keine Pillen. Sie brauchen eine menschlichere Welt.
14 Prozent leiden unter Angstzuständen, 7 Prozent unter Depressionen, 3,4 Prozent gelten als Süchtige (wobei Nikotinsucht offensichtlich deswegen keine Berücksichtung findet, weil Raucher – im Gegensatz zu Alkoholikern – ja trotzdem noch bestens „funktionieren“). Dieses Problem sollte nicht Mediziner und Psychiater beschäftigen, sondern Soziologen. Reichen die genannten Zahlen noch immer nicht aus, um zu erkennen, dass der Mensch nicht dafür geschaffen ist, sich in eine künstliche Welt hineinzwängen zu lassen? Ist es denn noch immer nicht offensichtlich, dass es in unserem System ausschließlich darum geht, die maximale Leistung aus uns heraus zu holen? Sind die Konsequenzen dieses Systems, in dem wir alle gefangen sind, denn noch immer nicht deutlich erkennbar? Armut, Zerfall der Familie, psychische Krankheiten, Stress, Burn-Out. Worauf warten wir noch, bevor wir endlich „nein“ sagen? Wie lange können wir uns noch der Illusion hingeben, dass es sich bei Armut ebenso wie bei Angststörungen, Depressionen, Alkoholismus, Verzweiflung, bloß um Schwächen Einzelner handelt? Wie lange wird es noch dauern, bis auch diejenigen, deren Leben heute noch in Ordnung erscheint, erkennen werden, dass es unter den gegebenen Bedingungen fast nur Verlierer gibt? Wer seinen Hund täglich verprügelt, darf nicht erwarten, dass ihn dieser verteidigt. Warum bemühen sich Menschen noch, ein Gesellschaftssystem aufrecht zu erhalten, das niemand anderem dient als einer kleinen, doch überaus mächtigen, Clique?

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