Rostock-Lichtenhagen.
20 Jahre ist es her, dass in Deutschland eines der schlimmsten
fremdenfeindlichen Pogrome der Nachkriegsgeschichte stattfand. Wer
erinnert sich noch? Und wie?
Eigentlich müsste das Thema Hochkonjunktur haben, angesichts der
NSU-Morde und der Verstrickungen des Verfassungsschutzes in die rechte
Szene, der verbreiteten Akzeptanz für rassistisches Gedankengut in der
so genannten „Mitte der Gesellschaft“ im Zuge der Entsolidarisierung.
Aber die ARD bringt nicht etwa eine neue Reportage über 20 Jahre
Rostock-Lichtenhagen und den Zusammenhang mit der NSU und dem Versagen
des Verfassungsschutzes. Guckt sie vielleicht wenigstens mal, wie es
vietnamesischen Vertragsarbeitern, die damals gehetzt wurden, heute
geht? Fehlanzeige - sie bringt gar nichts. Immerhin hat der NDR noch einmal einen neuen Film beauftragt – der Regisseur bekam von vielen damals Verantwortlichen und Beteiligten kein Interview. Im „Freitag“ erscheint ein ärgerlicher Artikel,
der sich in Verrenkungen über Weglassungen versucht, solche
Ausschreitungen als Teil der menschlichen Natur zu betrachten, weder ein
speziell deutsches Phänomen noch eins, in dem Interessengruppen vorher
ganz gezielt die Massen auf Sündenböcke hetzen, noch eins, das konkret
mit der deutschen Vereinigung zu tun hatte, jenseits der materiellen
Probleme der Rostocker. Um Ausländerfeindlichkeit sei es schon gar nicht
gegangen.
Dabei waren die Ereignisse aus dem Sommer 1992 ein Paradebeispiel für
die gezielte staatliche Inszenierung eines Exempels, das gebraucht
wurde, um ein verschärftes Asylrecht durchzusetzen. Es wurde gelogen,
dass sich die Balken biegen, Absichten kaum verhohlen, Politik und
Polizei haben derart versagt, dass man nur ganz gezieltes Tun oder
besser Nichttun dahinter vermuten kann. Der Frust von deklassierten, um
ihre Hoffnung betrogenen Ostdeutschen wurde in klassischer Manier
gezielt auf die Ausländer als das „Andere“ kanalisiert, um CDU-Politik
durchzusetzen. Eine Leerstelle wurde gelassen, wo offensichtlich war,
dass sie von Rechtsradikalen besetzt werden würde. Der Tod von Menschen
war einkalkuliert.
„Das Boot ist voll“
Seit Mitte der 70ern zeichneten sich in der westlichen Welt, noch
fast unmerklich, nach einer Periode des Wohlstands, die ersten Zeichen
der beginnenden längerfristigen Rezession ab, die sich Anfang der 80er
verfestigten. Und damit kam eine konservative Wende, symbolisiert durch
die Wahl von Reagan in den USA, Thatcher in England, die die
Entsolidarisierung der Gesellschaft vorantrieben, etwa in dem sie die
Spitzenzinssätze für Reiche massiv senkten oder die Gewerkschaften
zerschlugen. In der alten Bundesrepublik kam Helmut Kohl an die Macht.
Seit den frühen 80er Jahren tobte in hier eine immer heißer werdende
Debatte um die Asylgesetze, die bereits Ende der 70er begonnen hatte.
Die CDU drängte auf eine Änderung, die im linken politischen Lager als
eine Quasi-Abschafffung des Asylrechts betrachtet und auch von der SPD
abgelehnt wurde. „Das Boot ist voll“ und „Scheinasylanten“ wurde zu
rhetorischen Schlagworten in den Medien, oder auch die Rede von der
„Asylanten-Springflut“, nach Karl Frommes bereits 1980 in der FAZ
erschienem Aufruf, den „Asylantenstrom“ einzudämmen. Rassismusforscher
Siegfried Jäger konstatierte 1993, dass es teilweise keine Unterschiede
zur Sprache im Dritten Reich geben würde. Rassimus kommt immer aus der
Mitte der Gesellschaft, stellt er klar: Haltungen verfestigen sich dort,
und werden an den Rändern der Gesellschaft ausgeführt, zumeist von
jungen Männern, die sich trauen, das zu tun, was andere nur denken. Wie
sehr der Asylant als solcher schnell zum Feindbild wurde, zeigten
verstärkte Angriffe auf Ausländer seit Mitte der 80er. Rechtsradikale
Parteien und Gruppierungen sprangen Ende des Jahrzehnts auf den Zug auf
und verschärften die Rhetorik.
Die Wende
Dann kam die Wende, die Übernahme der DDR durch die Bundesrepublik.
Viele DDR-Bürger glaubten Kohls Versprechen, es werde den meisten von
ihnen bald besser gehen, und keinem schlechter, in der Hoffnung auf
politische Freiheit, aber auch geblendet vom Konsumversprechen. Den
Westdeutschen hatte er im gleichen Atemzug versichert, dass sie keine
Nachteile erleiden werden. Die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan
konstatierte drei Jahre später angesichts der Pogrome in Lichtenhagen,
dass die Ostdeutschen u.a. so viele Probleme mit der Demokratie hätte,
weil sie mit falschen Versprechungen begonnen hatte und so kein
Vertrauen in sie entstehen konnte.
Der Osten wurde zudem systematisch ausgeplündert und
deindustrialisiert, Händler, aber auch Chefs, Politiker und
Rechtsradikale aus dem Westen kamen, um dem gemeinen Ossi zu zeigen, wo
es lang geht, sich selber neue Karrieren aufzubauen. Die Ostdeutschen
wurden zu Menschen zweiter Klasse, als nicht besonders beliebte
„Gastarbeiter“ in der alten Bundesrepublik, aber auch in der eigenen
Heimat, wo sie sich den neuen Regeln zu unterwerfen hatten. Man sprach
von den „Besser-Wessis“, die den Ton angaben. Viele Ostdeutsche verloren
ihre Arbeit, nicht alle fanden neue. Eine der am härtesten betroffenen
Regionen war Mecklenburg-Vorpommern, unter anderem die Hafenstadt
Rostock.
Ausländische Vertragsarbeiter und Asylanten
Und dann waren da die Ausländer. Das war auch neu. In der DDR gab es
zwar auch Ausländer, neben den russische Soldaten und Studenten aus
aller Welt Vertragsarbeiter vor allem aus den „sozialistischen
Bruderländern“ Vietnam, Kuba und Mosambik. Diese wurden jedoch von der
deutschen Bevölkerung fern gehalten, lebten getrennt in eigenen
Wohnblöcken und Kontakt zur den Deutschen wurde nur zu formalen
„Freundschaftstreffen“ ermutigt. Normale Beziehungen, Freundschaften und
Liebschaften, zu Ostdeutschen durften sie nicht aufbauen, nicht am
Alltagsleben teilnehmen. Deutschen Arbeitskollegen, soweit es sie gab,
wurde sogar untersagt, sie privat zu besuchen. Sie waren für die meisten
Ostdeutschen unsichtbar, wenn man sie sah, waren es die „Fidschis“ und
die „Schneeflöckchen“.
Nach der Wende, die meist die stillschweigende Abschiebung für die
Vertragsarbeiter bedeutete, kamen zunächst die Osteuropäer. Die kannte
man als ehemaliger DDR-Bürger vielleicht von Urlaubsreisen, vor der
eigenen Haustür fand man sie allerdings eher stören. Andere Sprache,
andere Sitten, und dann hatte man ja doch selbst nichts, und sie waren
arm und somit Konkurrenz für die Sozialleistungen, die Almosen des neuen
deutschen Staates.
In Rostock-Lichtenhagen, einem einstigen
Vorzeige-Arbeiterwohnviertel, in dem jetzt jeder Zweite arbeitslos war,
eröffnete Mitte 1991 die zentrale – und einzige - Aufnahmestelle für das
Kontingent an Asylbewerbern, das Mecklenburg-Vorpommern zugeteilt
wurde, die ZAst, gleich neben dem Aufgang, in dem seit Jahren die
vietnamesischen Vertragsarbeiter mit ihren Familien wohnten. Solche Orte
findet man immer nur in einfachen Vierteln, nie in den besseren. Zur
gleichen Zeit kursierten Handzettel in Rostock, in denen rechtsextreme
Parteien für sich warben, indem sie Stimmung gegen Ausländer machten. In
der etablierten Politik tobte die „Asyldebatte“ zwischen CDU und der
SPD, die sich noch immer weigerte, das neue, verschärfte Gesetz zu
unterschreiben. Das Thema war in den Medien präsent. Fremdenfeindliche
Angriffe rechtsgerichteter Jugendlicher vermehrten sich, in Rostock, im
Osten, in den alten Bundesländern. Trauriger Höhepunkt war der Überfall
auf ein Asylantenheim im sächsischen Hoyerswerda im September. Wie
abschreckend die Atmosphäre gewesen sein muss zeigt allein die Tatsache,
dass unter den „Wessi“-Händlern, die versuchten, sich im Osten eine
goldene Nase zu verdienen, kaum welche mit ausländischen Wurzeln waren.
Unhaltbare Zustände
Schon bald nach der Eröffnung waren die knapp 300 Betten der ZAst
hoffnungslos überfüllt. Die Medien schienen Recht zu haben: Das Boot ist
voll! Die Neuankömmlinge, nun meist rumänische Sinti und Roma, begannen
seit dem Frühjahr 1992 in den Grünanlagen und und unter den Balkons zu
kampieren, bis sie Einlass in der ZAst bekamen, um ihre Unterlagen zu
bekommen und weiter verwiesen zu werden. Das dauerte oft Tage. Sie
schliefen im Gebüsch, sie verrichteten ihre Notdurft in den
Hauseingängen und an den Gehwegen. Die Stadt weigerte sich, mobile
Toiletten aufzustellen, oder übergangsweise alternative Quartiere zur
Verfügung zu stellen, die vorhanden gewesen wären. Man argumentierte
damit, dass man ja so die Zustände legalisiere und immer mehr Ausländer
kommen würden. Außerdem sei kein Geld da, und man verwies auf die
Zuständigkeit der Landesregierung. Die betroffenen Menschen überließ man
einander: Die Asylsuchenden ohne jeden Ort für sich, ungeachtet ihres
Schicksals, und die Ostdeutschen, deren Welt auch gerade
zusammengebrochen war, deren Euphorie über die Wende längst einer
Hoffnungslosigkeit und einem Frust über die oft aussichtslose Zukunft
gewichen war.
Vertreter des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen
(UNHCR) hatten bereits kurz nach der Eröffnung die Anlage besucht und
die und die Zustände als unhaltbar angemahnt, im Juni 1992, nach einer
deutlichen Verschlechterung der Situation, warnten Mitarbeiter des
Gesundheitsamts vor drohender Ausbreitung von Infektionen. Es wurde
schließlich ein Ausweichprojekt gefunden, eine ehemalige Kaserne der NVA
in einem anderen Stadtteil. Zunächst war der Umzug zum 1. Juni geplant,
aber der neue Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern Lothar Kupfer
(CDU), ließ trotz der katastrophalen Situation den Termin immer weiter
nach hinten verschieben. Nichts wurde getan, um die Situation zu
entschärfen. Bei den lokalen Anwohnern, deren Wohnqualität erheblich
gemindert war, staute sich die Wut auf. Alle ihre Beschwerden an die
Behörden waren verhallt, selbst Warnungen von einigen Politikern vor
drohenden Gewaltakten, sogar von Parteigenossen des Innenministers,
blieben ohne Folgen. Schon ein Jahr zuvor hatte der Rostocker
Oberbürgermeister seine Kollegen vom Land darauf hingewiesen, dass mit
„schwerste Übergriffe bis hin zu Tötungen […] nicht mehr auszuschließen“
sind. Er hatte sich irgendwann entschlossen, die Situation zu
ignorieren, da sich von Seite der Landesbehörden nichts tat.
Die rechte „Bürgerwehr“ übernimmt
In diese Lücke sprangen die rechten Parteien, NDP und DVU. Sie
verteilten ausländerfeindliche Flugblätter in Lichtenhagen, und
gründeten eine „Bürgerwehr“, die aufräumen sollte. Diese kündigte sogar
der lokalen Presse an, dass es an diesem letzten Wochenende im August
endgültig „knallen“ würde. Es ging um die ZAst, die „Zigeuner“-Lager
davor. Ausdrücklich ausgenommen waren die „Fidschis“, die
vietnamesischen Vertragsarbeiter, mit denen man sich offenbar arrangiert
hatte. Allerdings hatte ausgerechnet Polzeidirektor Kordus bereits im
Frühjahr auch vor der Gefahr von fremdenfeindlichen Übergriffen gegen
die Vietnamesen gewarnt. Einer der rechten Täter sagte später aus, dass
die Polizei sehr wohl gewusst hätte, von wem die Ankündigung kam, und
dass sie absolut ernst zu nehmen war – trotzdem blieb jede Vorbereitung
seitens der Polizei aus. Eine vorsorgliche Räumung der ZAst wurde in
Betracht gezogen, aber nicht durchgeführt. Die fast vollständig aus dem
Westen stammenden leitenden Polizeibeamten fuhren sogar zum Wochenende
nach Hause – und überließen Lichtenhagen Stellvertretern, wobei sich der
Einsatzleiter noch in Ausbildung befand.
Zunächst waren gar keine Polizisten da, dann kamen gerade mal 30
Beamte, als sich am Samstag Abend bereits 2000 Leute, davon 200
gewaltbereiten Rechtsradikale und Hooligans, versammelt hatten. Die auf
den Wiesen campierenden Flüchtlinge hatte man in letzter Minute
abtransportiert. Die Polizisten, in normaler Ausrüstung, wurden schnell
zusammengeschlagen und weitere anrückende Beamte vertrieben. Das
„Volksfest“ konnte so mehr oder weniger ungestört von staatlicher Seite
seinen Lauf nehmen: Steine zertrümmerten die Fenster der ZAst und des
Vietnamesen-Wohnheims gleich mit, ein erster Molotov-Cocktail setzte ein
Zimmer in Brand, der grölende Mob spendete Beifall, die Stimmung stieg.
Erst um zwei Uhr kamen zwei Wasserwerfer, die kurz zuvor ganz zufällig
aus Rostock abgezogen waren, aus Schwerin angefahren, die aber auch
wirkungslos blieben. Obwohl die Rostocker Bereitschaftspolizei über 1
100 Mann verfügt hätte, waren am ganzen Abend nicht mehr als 160
Polizisten im Einsatz, von denen einer schwer verletzt wurde, andere
leichter. Nur neun Gewalttäter wurden festgenommen, und am nächsten Tag
wieder entlassen.
Auch an den nächsten Tagen gab es kaum ernsthafte Festnahmen, und die
Polizei wurde lediglich auf zwei zusätzliche Hundertschaften aus
Hamburg verstärkt, die der Situation absolut nicht gewachsen waren, und
sogar verfrüht wieder abgezogen wurden. Dafür bekamen die Neonazis
Verstärkung von bekannten Szenegrößen aus dem Westen und deren Freunden.
Schon vor Eintreffen der BGS-Einheiten am frühen Montag und der
nächtlichen Rückkehr des Polizeichefs aus dem Wochenende hatten die
inzwischen knapp tausend Gewalttäter das Haus in die Zange genommen, und
waren bereits bis in den 6. Stock vorgedrungen. Überall schallten Rufe:
„Deutschland den Deutschen!“, „Wir kriegen euch alle!“ Der Mob
applaudierte. Es flogen Steinen, Molotow-Cocktails, Leuchtraketen und
Leuchtspurmunition gegen das Haus, und gegen die Polizei. Von den 130
Festgenommenen waren 60 Linke, die versucht hatten, das Haus zu schützen
und die Nazis abzudrängen.
„Ihr werdet alle geröstet“
Im Gegensatz zur Polizei waren Medienvertreter schnell und in hoher
Anzahl vom ersten Moment an präsent, von der lokalen Presse bis bald
auch zur nationalen. So sind die Ereignisse gut dokumentiert, und gingen
zeitnah um die Welt. Am Montag versammelten sich bereits am Vormittag
die Massen vor dem Haus, in Siegesstimmung. Schon lange waren Bierstände
aufgebaut worden. Der Polizeidirektor empfand die Lage als ruhig,
lehnte sogar angebotene zusätzliche Hundertschaften des BGS ab, auch
wenn andere die wachsende Aggressivität durchaus bemerkten.
Vorsichtshalber evakuierte man aber nun doch die ZAst – die Vietnamesen
blieben, über hundert Menschen, darunter schwangere Frauen und Kinder.
Der Polizeidirektor sah aber keinen Grund mehr, die Kräfte vor Ort zu
lassen, obwohl die Vietnamesen schon in den Tagen davor ebenfalls
Zielscheibe der Angriffe gewesen waren. Die Polizei zog sich komplett
zurück und das Haus und die Menschen waren völlig ungeschützt.
Ein ZDF-Fernsehteam interviewte die betroffenen Vertragsarbeiter, und
machte Bilder von den Schäden im Haus, auch der Rostocker
Ausländerbeauftragte und eine Mitarbeiterin sprach mit den Vietnamesen,
als der Mob am Abend wieder angriff. Die Gewalttäter waren jetzt völlig
ungehemmt: Sie setzten systematisch das Haus - nicht die leergeräumte
ZAst, sondern das Vietnamesen-Wohnheim - mit Molotov-Cocktails in Brand,
erstürmten mit Baseballschlägern den Eingangsbereich und stiegen über
die Balkone ein. Die Eingeschlossenen flohen immer höher in die oberen
Stockwerke, vor dem Brand und dem Rauch, und vor den Gewalttätern, die
jetzt ihre Absicht zu töten unverhohlen kundtaten: „Ihr werdet alle geröstet.“
In Todesangst brachen die Fliehenden verschlossene Türen auf, um aufs
Dach zu gelangen, nachdem sie einige der Wachleute und Hausbewohner
bereits auf dem Weg dorthin verloren hatten. „Wir hatten sie
abgeschrieben,“ konstatierte später ein geschockter Teilnehmer. Auch
oben bestand die Gefahr, das man sie einfach runter wirft. Irgendwann
konnten sie in eins der Nachbarhäuser gelangen. Sie mussten bis in die
unteren Stockwerke gehen, ehe ihnen die Tür aufgemacht wurde, um die
Rauchvergiftungen, die einige erlitten hatten, notdürftig behandelt
werden konnten. Als eine Frau sie hereinließ, kamen auch andere zu
Hilfe.
Erst 1 1/2 Stunden nach dem ersten Anruf einer Anwohnerin konnte die
von der Polizei nicht über den Brand informierte Feuerwehr zum Haus
vordringen, weil sie zuvor keinen bzw. nur geringen Polizeischutz bekam.
Dabei wusste die Polizei schon länger, was passiert: Der im Haus
eingeschlossene Ausländerbeauftragte der Stadt hatte sie noch über das
Feuer und die Angriffe informiert, kurz bevor die ersten Nazis mit
Baseballschlägern ins Haus eindrangen. Danach hatte er kein erreichbares
Telefon mehr. Das ebenfalls eingeschlossene ZDF-Team drehte die Stunden
der Angst im Haus mit. „Die Polizeinspektion hat nicht begriffen, was
hier vorgeht,“ ruft der völlig verzweifelte Ausländerbeauftragte in die
Kamera. Nach über zwei Stunden Flucht vor Menschen, die keine Hemmungen
gehabt hätten, sie umzubringen, konnten sie in einem Polizeispalier
durch die Menge zu zwei Bussen gebracht werden, die sie abholten. Er
habe kein Mitleid in den Augen der Menschen gesehen, nach allem was sie
durchgemacht hätten, sagte einer der Vertragsarbeiter – er hätte vom
Herzen etwas anderes erwartet. Selbst die Busse wurden auf der Fahrt
noch von Rechtsradikalen verfolgt.
Unverhohlene Instrumentalisierung, kein Scham, kein Mitleid
Die Vietnamesen wurden in einer Turnhalle regelrecht ausgesetzt, ohne
Verpflegung. Der Rostocker Bürgermeister besuchte sie dort, um ihnen
mitzuteilen, dass sie nach einer weiteren Verlegung in das verbrannte
„Sonnenblumenhaus“ zurückkehren sollen, indem sie Tage zuvor dem Tod
entronnen waren. Außer einer kühlen, formalen Entschuldigung erhielten
die Menschen, die nicht nur gerade traumatische Erlebnisse ausgestanden
und durch den Brand teilweise ihr gesamtes Hab und Gut verloren hatten,
inklusive persönlicher Erinnerungen, sondern auch zehn Jahre in Rostock
gelebt und gearbeitet hatten, keinerlei Entschädigung. Sie erhielten im
Gegensatz zu ihren deutschen Nachbarn nicht einmal Mieterlass als
Ausgleich für die „Randale.“ Um die Perversion zu vollenden, drohte
ihnen dagegen die Ausweisung.
Der Hauptverantwortliche für die Verzögerung des ZAst-Umzugs, Lothar
Kupfer, log am nächsten Tag unverhohlen vor laufender Kamera auf der
Pressekonferenz, dass es ein gemeinsamer Mob aus Links- und
Rechtsradikalen gewesen wäre, der das Haus gestürmt hat. Er stellte das
Ereignis nicht in eine Linie mit Hoyerswerda, sondern mit Brockdorf und
der Hafenstraße. Die Flucht der Vietnamesen aus ihrem brennenden Haus
stellte er als Hausfriedensbruch dar, da sie sich unberechtigt Zugang
zur ZAst verschafft hatten. Keiner der „vietnamesischen Staatsbürger“
sei zu Schaden gekommen. Ministerpräsident Bernd Seite verurteilte die
„menschenverachtende Brutalität“ der Gewalttäter – allerdings gegen die
Polizei, nicht die Vertragsarbeiter und ihre Familien, die gar nicht
erwähnt wurden. Als Ursache wurde nicht das Versagen der
Polizeieinsatzleitung, die bei einer Demo gegen Rassismus eine Woche
später spontan 3 000 Polizisten mobilisieren konnte, gesehen, sondern
wieder die Rhetorik vom „unkontrollierten Strom an Asylbewerbern“
bedient.
Noch während der Ereignisse war der damalige Bundesinnenminister
Rudolf Seiters nach Rostock gekommen. Doch er fuhr nicht etwa nach
Lichtenhagen, sondern auf eine Pressekonferenz. Dort beklagte er den
schlimmen Schaden, den das Image Deutschlands durch die Ereignisse
erleidet, weil man ja doch nicht als ausländerfeindlich dastehen wolle,
um zugleich den ungehemmten Zuzug von Ausländern als Ursache für die
Ereignisse auszumachen, somit die Opfer des Pogroms zu Tätern
umstilisierte. Die SPD, wo es sowieso teilweise Zustimmung gab,
unterschrieb den sog. „Asylkompromiss“, was sie jahrzehntelang abgelehnt
hatte - am 6. Dezember wurde er im Bundestag beschlossen. Durch die
Änderung des Grundgesetzes und des Asylverfahrensgesetzes wurde das
individuelle Grundrecht auf Asyl abgeschafft. Die Asylrechtsreform trat
im Juni 1993 in Kraft. Lothar Kupfer trat zwar - als Einziger der
Verantwortlichen - aufgrund der massiven Kritik an seinem Vorgehen ein
Jahr später aus dem Amt zurück, und auch später aus der CDU aus, blieb
aber in der Landespolitik tätig. Es gingen ganze vier Täter ins
Gefängnis, die letzten drei Urteile wurden zehn Jahre nach dem Pogrom
gesprochen.
Quelle: FREITAG.DE
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