Rechtsanwältin Beatrix Hüller versichert sich nur minimal.
Schließlich hat sie selbst lange bei einer Versicherung gearbeitet. Die
Frau weiß, warum man dort als Kunde meist der Dumme ist. Sie ist
inzwischen so etwas wie das rote Tuch der Versicherungsbranche.
Versicherungen stürzen Tausende von Menschen in finanzielle und
seelische Nöte. Sie kassieren zwar Jahr für Jahr und Monat für Monat
ihre Prämien. Doch wenn sie einmal gebraucht werden, dann können sie
sich fast ohne Risiko verweigern. Mehr als 430 Millionen Versicherungen
haben die Deutschen abgeschlossen. Statistisch gesehen hat jeder
Bundesbürger vom Baby bis zum Greis mehr als fünf Versicherungen. Es ist
ein gewaltiges Geschäft. Denn jeder Bundesbürger zahlt statistisch gesehen pro Jahr
2.190 Euro allein für Versicherungen. Jeder Bürger hat dabei andere
Vorlieben. Claudia Schiffer soll ihr Gesicht für 3,7 Millionen Euro
versichert haben und David Beckham seine Beine für mehr als 52 Millionen
Euro.
Die meisten Menschen im deutschsprachigen Raum suchen ganz anderen
Schutz: Sie haben eine Haft-, eine Kranken-, eine Unfall-, eine Pflege-
oder eine Rechtsschutzversicherung, viele auch eine Versicherung, die
bei Berufsunfähigkeit eintreten soll. Und genau das kann die Bonner
Anwältin Beatrix Hüller nicht verstehen. Sechs Jahre lang hat die
gebürtige Ingolstädterin bei einer großen Versicherung in der Abteilung
»Berufsunfähigkeit« als Sachbearbeiterin gearbeitet. Sechs Jahre lang
hat sie die Tricks gelernt, die Ansprüche von Kunden abzuwimmeln, sie zu
vertrösten – möglichst bis die biologische Lösung eintritt oder der
Antragsteller einfach entnervt aufgibt. »Wenn man einen Leistungsantrag
aus der Berufsunfähigkeitsversicherung stellt, also Geld von der
Versicherung haben will, dann hat man einen neuen Job«, sagt die 53
Jahre alte Juristin, deren Büro nur unweit vom alten Bonner Kanzleramt
entfernt ist. Versicherungen leben nicht davon, Gelder an Kunden
auszuzahlen, sondern davon, möglichst viel Geld einzunehmen und zu
verwalten. Beatrix Hüller sagt: »Die Versicherer nehmen erst einmal fast
alle Kunden auf, auch Risikokunden. Und wenn sie später zahlen sollen,
dann schließen sie die Leistungen aus, lassen
die Kunden einfach hängen.« Beatrix Hüller sagt: »Bei der
Unfallversicherung gab es schon vorformulierte Textbausteine mit
Ablehnungsgründen. Da musste man noch nicht mal mehr einen individuellen
Brief schreiben. Von 100 Leistungsfällen habe ich bestimmt zwei Drittel
abgelehnt.«
Als Beatrix Hüller 1996 im Auftrag ihres damaligen Arbeitgebers der
Frau eines im Sterben liegenden und an Aids erkrankten Mannes die
Leistungen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung verweigern musste, der
Familie des Sterbenden vielmehr weitere ärztliche Gutachten abverlangen
sollte, da hat sie die Seiten gewechselt. »Mir wurde schlagartig klar,
dass ich nicht die Glaspaläste der Versicherungskonzerne und die
ausschweifenden Orgien der Versicherungsvertreter finanzieren helfen
will«, sagt Frau Hüller energisch. Während sie ihren Hund Cassius, einen
echten Labradoodle (Mischling aus Labrador und Pudel) streichelt, hebt
sie hervor: »Die Versicherungskunden sollen nicht sehen, dass ihr Geld
für Luxusreisen von Versicherungsvertretern wie mit dem Füllhorn
ausgegeben wird. Ich habe das jedenfalls lange Jahre so alles
mitbekommen.« Während jene Versicherungsvertreter, die ihren Kunden
möglichst viele Versicherungen aufschwatzen, von den Unternehmen im
Luxus ertränkt werden, siechen im Falle der
Berufsunfähigkeitsversicherungen viele schwerstkranke Kunden vor sich
hin. Genau dieses Elend, Versicherungskunden, die abgespeist oder mit
immer neuen Formularen und Anträgen hingehalten werden, bekommt die
Anwältin heute Tag für Tag in ihrer Kanzlei hautnah mit. »Seit dem
Beginn der Wirtschaftskrise ist der Ton in der Branche noch härter
geworden«, sagt Frau Hüller. »Die Versicherungen wollen möglichst gar
kein Geld mehr auszahlen, lehnen fast alles ab.« Früher, da sei der
Allianz-Konzern ebenso wie die Ergo-Gruppe großzügig gewesen, habe sich
so einen guten Ruf aufgebaut. Heute sei das anders. Und einst angesehene
Konzerne wie die Aachener & Münchner seien »heute für ihren rauen
Ton den Kunden gegenüber bekannt«.
Das zahlt sich aus Sicht der Versicherungen offenbar aus. Schließlich
dauert es beispielsweise im Falle einer Klage gegen eine abgelehnte
Berufsunfähigkeit vier bis fünf Jahre, bis es ein erstinstanzliches
Urteil gibt. Die Versicherer stellen so lange Anträge auf neue
Gutachten vor Gericht, bis der Kunde irgendwann entnervt aufgibt. Oder
kein Geld mehr hat. »Wenn man so ein Verfahren durchzieht, dann kostet
das sicher erst einmal 4.000 Euro für Gerichtskosten, etwa 5.000 Euro
für Gutachter und 6.000 Euro Anwaltshonorare«, sagt die Frau, die es
wissen muss. Wer da keine Rechtsschutzversicherung hat, der überlegt
sich zweimal, ob er klagt. Auch das wissen die Versicherer. Die gewiefte
und in der Branche weit über Bonn hinaus bekannte Rechtsanwältin
Hüller, Fachanwältin für Versicherungsrecht, ist inzwischen so etwas wie
das rote Tuch deutscher Versicherungskonzerne. Schließlich weiß sie,
wie die arbeiten, kennt die kleinen Reiter an den elektronischen Akten
der Kunden, die dem Sachbearbeiter anzeigen sollen, in welche Kategorie
die abzuwimmelnden Kunden einsortiert werden.
»Die schwersten Fehler machen die Kunden schon bei Vertragsschluss«,
sagt die Frau, die auch die Wochenenden meist in ihrem Büro
durcharbeitet. Ihr erster Rat: Wer eine Versicherung abschließt, die mit
Gesundheit zu tun hat, etwa eine Berufsunfähigkeitsversicherung, »der
sollte in jedem Fall gleich zum Antrag eine Kopie der Behandlungen aus
der Datei des Hausarztes beifügen. Und, ganz wichtig, einen
Leistungsspiegel der Krankenkasse«. Dort sind alle eigenen Erkrankungen
genau aufgelistet. Man bekommt diesen Leistungsspiegel bei der
Krankenkasse. Wenn das alles schon bei Vertragsschluss etwa einer
Berufsunfähigkeitsversicherung mit eingereicht wird, dann hat die
Versicherung später im Ernstfall keine Chance, eine Leistung
auszuschließen. Aber nicht einmal jeder tausendste Kunde hat daran bei
Vertragsschluss gedacht. Das macht es den Versicherern heute leicht. Den
nächsten Fehler machen viele, wenn sie eine Leistung von der
Versicherung einfordern. Beim Ausfüllen der Formulare wartet eine ganze Reihe von Fallstricken. Eine falsche Formulierung – und die ganze Arbeit ist umsonst.
Deshalb sollte man einen Leistungsantrag niemals zusammen mit dem
»netten Versicherungsvertreter« ausfüllen. Auf der sicheren Seite ist
man, wenn man Leistungen über einen Fachanwalt für Versicherungsrecht
beantragt. Die Kosten dafür kann man nicht bei der
Rechtsschutzversicherung geltend machen. Denn die
Rechtsschutzversicherungen zahlen erst ab einem Streitfall, also ab
einer Ablehnung. Und genau das ist ein weiteres Problem. Betroffene
können die dringend notwendige Unterstützung schlicht nicht bezahlen.
Bei der Hilfe auf Rechtsschutz zur Antragstellung auf Leistungen aus
einer Versicherung zahlt die Rechtsschutzversicherung nicht. Genau wegen
solcher Feinheiten hat Rechtsanwältin Hüller viele Versicherungen
nicht. Weil sie im Ernstfall nichts leisten. Das aber merken die Kunden
erst, wenn sie viele Jahre lang eingezahlt haben. Und nur so können sich
die Versicherungskonzerne gigantische Paläste leisten.
In dem in Bonn ansässigen 2002 gegründeten Verein »PV Anspruchshilfe
e.V.« haben sich Fachjuristen, Ärzte und Versicherungsvertreter
zusammengeschlossen, um im Einzelfall »schnell und reibungslos« Menschen
zu unterstützen, die zu den Berechtigten von Versicherungsleistungen
bei Berufsunfähigkeit gehören, aber Schwierigkeiten haben, diese
Ansprüche auch durchzusetzen. Die dort vertretenen Helfer sind eine Art
»grüne Dame« jener, die von der Versicherungswirtschaft mit Füßen
getreten werden. Je stärker also dieser Verein durch neue Mitglieder
unterstützt wird, desto mehr Gegengewicht bekommen die großen
Versicherungskonzerne.
Quelle: KOPP VERLAG
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